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weißes Blatt100%: Filbinger-Riggert, Susanna: weißes Blatt (ISBN: 9783593420684) 2013, Erstausgabe, in Deutsch, auch als eBook.
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weißes Blatt: Eine Vater-Tochter-Biografie100%: Filbinger-Riggert, Susanna: weißes Blatt: Eine Vater-Tochter-Biografie (ISBN: 9783593419466) in Deutsch, Taschenbuch.
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weisses Blatt : Eine Vater-Tochter-Biografie94%: Filbinger-Riggert, Susanna: weisses Blatt : Eine Vater-Tochter-Biografie (ISBN: 3593398036104) 2013, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2013, in Deutsch, Broschiert.
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weißes Blatt: Eine Vater-Tochter-Biografie83%: Filbinger-Riggert, Susanna: weißes Blatt: Eine Vater-Tochter-Biografie (ISBN: 9783593398037) 2013, Campus Verlag GmbH, Erstausgabe, in Deutsch, Broschiert.
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71%: (ISBN: 9781550662573) in Deutsch, Broschiert.
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9783593419466 - Filbinger-Riggert, Susanna: weißes Blatt (eBook, ePUB)
Filbinger-Riggert, Susanna

weißes Blatt (eBook, ePUB)

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ISBN: 9783593419466 bzw. 3593419467, in Deutsch, Campus, Frankfurt am Main, Deutschland, neu.

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1 Der Frühling ist mal wieder keiner gewesen und der Sommer droht keiner zu werden. Ein verregneter Mai und jetzt Anfang Juni die Schafskälte. In den Morgenstunden hat Nebel über den durchnässten Wiesen gestanden, der sich nur langsam auflöst. Auf den Feldern liegt das Korn gedrückt, die Wege sind matschig. Die Lupinen blühen, Kamille, Margeriten - groß ist sie ja nicht mehr, die Artenvielfalt am Wegesrand -, Gänseblümchen und natürlich Löwenzahn, "Unkraut vergeht nicht". Es hat Beschwerden gegeben aus der Nachbarschaft über den Zustand des Gartens. Die Hecken müssten geschnitten werden, ganz zu schweigen von den Rosen, es müsste gemäht werden. Mähen allerdings würde schon nicht mehr gehen, da müsste schon jemand mit der Sense kommen. Sicheln, wie es so schön heißt. Ich parke unmittelbar vor dem Haus auf dem schmalen Bürgersteig, anders geht es nicht in der engen Straße, ziehe noch im Auto den Gürtel meines Trenchcoats fester zu, in der Tasche spüre ich den Schlüsselbund, die ganze Fahrt über habe ich ihn gespürt. Warum eigentlich ich? Warum muss ich das machen und warum bin ich allein? Die Handtasche vom Beifahrersitz schnappen, die Autotür zuschlagen, das Tor aufsperren, an der Garage vorbei, die Treppe zum Haus hinaufgehen. Die Haustür aufsperren. Es ist ein Jahr nach seinem Tod. Mutter ist ihm vor wenigen Wochen gefolgt. Es riecht muffig in der Diele, klamm. Man müsste lüften, alle Fenster aufreißen, alle Türen, es müsste geheizt werden, das Haus ist aus dem Jahr 1950, keine gute Bausubstanz. Man müsste putzen, "grundreinigen", man müsste aufräumen. Am besten wäre es, das Haus leer zu räumen. Man müsste Entscheidungen fällen, es vermieten oder verkaufen. Ich stehe im Flur und schaue die Wände hoch. Schimmel würde sich als Erstes oben in den Ecken bilden. Ich habe in meinem bisherigen Leben schon sehr gut, aber auch lange extrem bescheiden gelebt. Wohin man in nicht gelüfteten Häusern als Erstes sehen muss, weiß ich genau. Und trotzdem ist es absurd, was ich tue. Vielleicht haben meine Geschwister ja recht. Sie sind für "Entsorgen", ich bin die Einzige, die dagegen ist. Es geht nicht um das Haus, es geht um sein Arbeitszimmer, die Bibliothek, jenen halbkreisförmigen, nachträglich in den Berghang geschlagenen Kultraum. Die Bibliothek wirkt wie die Apsis einer Barockkirche, ein Heiligtum in Bauweise und Einrichtung. Sein Heiligtum. Wohin mit Tausenden von Büchern, mit gewiss Hunderttausenden von Schriftstücken und Dokumenten, und alles ist Vergangenheit, vorbei, vorbei, vorbei. Hat Mutter deshalb die Tür nach seinem Tod verschlossen halten wollen? Alles hatte sie nun allein machen wollen, sie, die nie allein gewesen war. Wie eine Marotte war es uns erschienen, dass sie plötzlich den Zugang verweigerte, den Zugang zur Zentrale, zum Herzstück unseres Hauses. Von hier aus hat er regiert. Wie eine Art Einflugschneise wirkt der Weg durch die große Diele, in den Anbau, durchs Esszimmer, direkt auf seinen riesigen Schreibtisch zu. Und immer, wenn er da war, war die Tür offen. Dann sah man ihn schon vom Eingang aus hinter seiner Arbeit sitzen. Aber heute ist die Tür zu, und ich muss sie öffnen. Meine zögernde Hand auf der kalten Klinke - was weiß der Körper von den Dingen, die wir machen? Es ist dunkel im Raum, als Erstes gehe ich zu den Vorhängen und ziehe sie zur Seite, ich schalte die Lampen an, drehe die Heizkörper auf. Ein zartes Spinngewebe, fast unmerklich, streift meine Hand, ich ziehe sie erschrocken zurück. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen: die wandhohen Regale, erdrückend, wie ich schon immer fand, sein großer Schreibtisch, ein Stehpult, eine Sitzecke, zwei Armsessel vor dem Fernseher und viel Raum zum Auf-und-ab-Gehen. Wie oft ist er hier auf und ab gegangen, hin und her. Und wie oft habe ich dabeigesessen und ihm zugehört. Auf dem Couchtisch liegt ein Stapel Kondolenzbriefe, alles ist überzogen von einer feinen Staubschicht. Keine Frage, hier war seit Monaten kein Mensch mehr. Mir fällt eine Anekdote von Picasso ein. Der Maler hatte sich ungeheuer aufgeregt, als eine seiner Frauen in seinem Atelier ungefragt Staub gewischt hatte. Er brauche den Staub, nur so könne er sehen, was bewegt worden war. Wie still es hier ist. Bücher, die nicht gelesen werden, schweigen ungeheuer laut. Erstausgaben, jede Menge Erstausgaben, Goethe, Schiller, dessen Porträt lehnt gegen die Theaterstücke von 1806. Europäische und deutsche Literatur, alphabetisch geordnet, ein ganzes Regal allein für französische Belletristik, dann Geschichte, Verfassungsgeschichte, Politik, deutsche Politik. Eine Marmorbüste von Konrad Adenauer steht in einer Lücke. Jetzt poltert es in den Heizkörpern. Lange werde ich nicht bleiben, beschließe ich, gehe zu den großen Glasschiebetüren und öffne sie. Wie viel heller es mir jetzt draußen vorkommt, obwohl der Himmel noch immer bedeckt ist. Fern der Schwarzwald, vor mir am Hang unser desolater Garten. Ich bin hier groß geworden. Hier im Garten habe ich das Laufen gelernt, sprechen gelernt, denken, fühlen. Wirklich? Hab ich hier fühlen gelernt? Oder war das woanders? Auf dem Rückweg gleich werde ich ein badisches Vesper essen, unten im Dorf, im Gasthaus "Kybfelsen". Ich werde Wein trinken. Wein trinken, das liebte er. Und reden, diskutieren, mit mir, ohne Ende. Diese Freude, wenn ich kam, später, als ich erwachsen war. "Je, Susala, da bist du ja! Komm rein, leg ab! Wie war die Fahrt? Was wollen wir trinken?" Und schon verschwand er im Weinkeller und immer kam er mit einem ganzen Sortiment zur Auswahl zurück, Spätburgunder, Riesling oder Silvaner, meistens Gewächse aus der Gegend, vom Kaiserstuhl oder aus dem Markgräflerland. Manche Flaschen hielt er wie Babys in den Händen, wägte ihre Qualität ab, indem er sie liebevoll begutachtend hin und her drehte. "Setz dich!", sagte er. "Mach es dir bequem." Und dann redeten wir, meist bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann tauchte Mutter im Bademantel auf, setzte sich kurz dazu, trank ein Glas mit und ermahnte uns, nicht zu lange zu machen: "Vater muss ins Bett, er braucht Ruhe!" Aber Vater wollte reden: über Politik, über das Neueste in der Familie und dann wieder über Politik, den Zustand der Parteien, über die Weltlage, über die Finanzmärkte, über Amerika, Europa, und natürlich über das Wichtigste: das Filbinger-Barometer. Wie stand es? Tief? Mittel? Hoch? Meines stand immer unter Druck, zu viel Druck. Hat er das jemals gemerkt? Noch heute zucke ich bei der Nennung meines Namens regelmäßig zusammen. "Warum nehmen Sie denn dann nicht den Namen Ihres Mannes an?", empfehlen die Gutmeinenden. Wenn das so einfach wäre …Am Horizont ist jetzt ein schmaler blauer Lichtstreif auszumachen, ich stehe wie festgewurzelt auf den roten Backsteinfliesen. Mein letztes längeres Gespräch mit ihm fand hier statt. Wenige Wochen vor seinem Tod. Es war ein ungewöhnlich warmer Märztag gewesen, und er war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine schwere Bronchitis hatte ihm den Atem genommen. An jenem Tag durfte er sogar ein paar Minuten draußen sein, an der frischen Luft. Ich hatte ihm seinen Lodenmantel übergezogen, in dem er fast versank. Er hatte stark abgenommen, er war sehr schwach. "Sein Körper ist wie durch schwere Traglasten zu einem Haken gekrümmt", hatte ein Journalist kurz zuvor über ihn geschrieben. Ich fand es pietätlos. Ich hatte Himbeerkuchen mitgebracht, ich weiß es noch genau, denn es war ja noch keine Zeit für Himbeeren, also waren sie etwas Besonderes. Bei uns wurde stets darauf geachtet, sich nichts Besonderes zu kaufen, nicht zu schlemmen. Gut zu essen, ja, aber nichts, was den Anschein von Verschwendung hatte. Doch den Kuchen hatte er gegessen, ein, zwei Gabeln wenigstens. Und dann machte er ein paar Schritte mit mir, hier auf dieser Terrasse. Ich trug das mobile Sauerstoffgerät, und er fing ganz leise zu erzählen an. Es ging um seine Orden. Sie seien im Eichenschrank aufbewahrt, das müsse ich wissen. Wenn es so weit sei, sagte er. Das Thema schien ihm plötzlich äußerst wichtig. Der Orden der Légion d'honneur, der sei ihm der liebste, die höchste Auszeichnung der Grande Nation, auf den sei er besonders stolz. Er habe ihn für seine Arbeit als Kulturbeauftragter der Bundesregierung verliehen bekommen, für den Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Vierhundert Jahre fortwährender Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland, vierhundert Jahre Spannungen und Kriege seien beigelegt worden, dozierte er im Flüsterton, während ich ihn stützte und mahnte, wieder reinzugehen in sein Arbeitszimmer. Aber Vater war mittendrin, es seien Schulen und Städtepartnerschaften gegründet worden und Austauschprogramme für Lehrlinge, für Studenten, fuhr er fort, "aber weißt du was?" Ich wusste, was jetzt kam. Eine Anekdote, fast alle seine Erzählungen endeten mit einer Anekdote, so auch damals. Es war unser letztes wirkliches Gespräch und mein Vater erzählte, wie er im Élysée-Palast zur jährlichen Bilanz dieser Arbeit neben Willy Brandt gesessen habe und wie dieser, nachdem Mitterrand sein Resümee aus französischer Sicht gezogen hatte, anstatt auf Mitterrands Wunsch zu antworten, die Antwort einfach an ihn abgegeben habe. "Das übernimmt Dr. Filbinger", habe Willy Brandt gesagt, und zwar ohne jegliche vorherige Absprache. "Bloßstellen wollte der mich, in Verlegenheit bringen! Aber das gelang ihm nicht." Wir blieben stehen und Vater strahlte mich aus seiner gebeugten Körperhaltung heraus an. "Ich habe auf Französisch geantwortet, einen dreißigminütigen Vortrag! Danach hat Brandt beschlossen: Der Filbinger muss weg. Der kriegt die Verlängerung nicht. Koschnik wurde mein Nachfolger. Aber der konnte außer oui und non kein einziges Wort französisch sprechen." Ich musste trotz seines Anblicks schmunzeln, wie kindisch können Politiker sein. Und dann verging mir das Schmunzeln: Wie konnten ihn solche Nichtigkeiten derart beschäftigen? Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Orden seien im Eichenschrank aufbewahrt, prägte er mir ein. Dann gelang es mir, ihn zurück in sein Arbeitszimmer zu schieben. Von wegen Eichenschrank. Kurz nach seinem Tod erhielt ich einen Anruf von der Protokollabteilung des Staatsministeriums: "Wir benötigen die höchsten Orden Ihres Vaters für die Aufbahrung während des Staatsaktes im Freiburger Münster!" Wie vorausahnend er mich doch präpariert hatte, dachte ich, doch als ich den Schrank öffnete, war kein einziger dieser Orden da. Ich räumte den gesamten Schrank aus, Urkunden, Ehrendoktorwürden, Ehrenbürgerschaften und - jawohl, da waren auch Orden. Aber es waren Fastnachtsorden. Als wir beschlossen, die richtigen Orden nachmachen zu lassen, tauchten die Originale schließlich auf: in einer Schublade seines Kleiderschrankes zwischen Manschettenknöpfen und schwarzen Wollsocken. Das bereits in Auftrag gegebene Ersatzbundesverdienstkreuz traf tags darauf ein. Mir ist kalt. Ich gehe zurück, schließe die Türen hinter mir wieder, ich habe keine Ahnung, wen ich für das Herrichten des Gartens fragen soll. Ich gehe ein wenig auf und ab, dann lasse ich mich an seinem Schreibtisch in den großen schwarzen Sessel sinken, blättere in einem alten Pressespiegel - das gelbe Band des Pressespiegels, das aus jedem Stapel hervorsticht, auch mich hat es ein Leben lang begleitet, in den Tagen, in den Nächten, ich habe es tatsächlich schon oft im Traum vor mir gesehen und es waren keine guten Träume. "CDU trauert um Filbinger, Wirbel um Oettinger-Rede …" Ein verstaubtes Diktafon steht da, ein Foto meiner Mutter und ein abgemeldetes Telefon. Leere, wo sich sonst die Manuskripte und Akten stapelten, wo Termine gemacht, Reden geschrieben und Bücher gewälzt wurden. Wenn mich jemand fragen würde, warum ich hier bin, wüsste ich keine Antwort. Ich musste plötzlich zu diesem Haus fahren, zu unserem Haus. Ohne dass ich etwas Konkretes vorhatte, etwas suchen oder finden wollte. Ich öffne die rechte Schublade seines Schreibtisches, ziehe das weiße Plastikringbuch heraus, das er immer bei sich hatte, wenn er unterwegs war. Es müssen seine letzten Einträge gewesen sein. Mit zittriger Schrift auf weißem, unliniertem Papier sind Zahlenkolonnen notiert, die seine Blutwerte, seinen Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit festhalten. Er hatte den Verfall seines Körpers richtiggehend in Zahlen festgehalten. Ich halte das Büchlein in der Hand und lasse es in meinen Schoß sinken. Er war alt geworden und ich weiß, dass er in Frieden gestorben ist. Wir waren ja alle dabei, haben um sein Bett gesessen. Der Pfarrer war noch einmal gekommen, seine Kinder waren da, im Garten spielten die Enkel. Es war Palmsonntag gewesen und er hatte einfach nur die Augen zugemacht und aufgehört zu atmen. Wieder schweift mein Blick über die hohen Regalwände. Ich bleibe an den Karteikästen hängen, grüne, nicht von der üblichen Sorte, sondern größere, für die Aufbewahrung von Manuskripten und Recherchematerial geeignet. Zeitungsartikel sind darin gesammelt, Dokumente aus der Regierungstätigkeit, es gibt eine Personenkartei von Raymond Aron bis Carl Zuckmayer. Die Lieblingsthemen - die deutsche Frage, die europäische Neuordnung, DDR, Ostpolitik, Sozialismus - umfassen mehrere Kästen. Meine Geschwister haben recht, was soll man damit noch machen? Entsorgen. Ein schönes Wort: Weg mit den Sorgen. Wird ja auch langsam Zeit. Und während ich das noch denke, stehe ich auf, trete an das Regal und ziehe einen der Kästen heraus. Er ist unbeschriftet, ich öffne ihn - und finde, womit ich nie im Leben gerechnet hatte. Einige Stunden später saß ich im Gasthaus Kybfelsen vor einem deftigen badischen Vesper und einem Schoppen Wein. "Dass Sie einmal wieder reinschauen!", hatte die Wirtin mich begrüßt, ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen dafür. Nach dem ersten grünen Kasten hatte ich noch zwei weitere herausgezogen und dann hatte ich sogleich versucht zu zählen. Es mussten um die 60 Tagebücher sein. Mein Vater hatte fast jeden Tag Tagebuch geführt und es waren nicht nur die letzten Jahre, die ich hier fand, sie gingen vielmehr bis in den Krieg zurück. Nein, ich zog nicht das Schicksalsjahr, 1978, als Erstes raus und auch nicht die Kriegstagebücher. Ich suchte das Jahr 1951. Eitelkeit? Mir schlug das Herz bis in die Ohren und es wurde mir so heiß wie lange nicht mehr. Was wollte ich denn wissen? Dass er es aufgeschrieben hatte? Aufgeschrieben, dass es mich gab? Ich fand die Stelle auf Anhieb, hatte aber Schwierigkeiten, seine Schrift zu entziffern. Dann erkannte ich die Worte vor mir. Da hatte er es festgehalten, wie die Hebamme ihm das kleine Bündel Mensch entgegengestreckt und die Augen seines ersten Kindes, seiner Tochter, ihn zum ersten Mal angeblickt hatten. Ein Augenblick des Glücks! Ein Bündel Mensch.... Und plötzlich konnte ich weinen, alle nicht geweinten Tränen, sie brachen aus mir heraus, in meinem leeren, toten Elternhaus. Es dauerte lange, bis ich mich wieder fassen konnte. Ich hatte auf dem Teppich gehockt und auf dem Dielenparkett sah ich jetzt die Spuren im Staub, die ich gemacht hatte. Deshalb war ich also gekommen. So erleichternd das Weinen gewesen war, so schwer war es mir jetzt um das Herz. "Entsorgen" ging nicht. Ich habe schon früh innerhalb meiner Familie eine bestimmte Rolle übernommen. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, sie ist mir zugefallen, vielleicht auch zugedacht worden? Jedenfalls geschah es eher intuitiv. Ich fühlte eine Art Verantwortung, die ich für unsere Familie zu tragen hatte, als Älteste von uns Geschwistern und dann auch als enge Vertraute meines Vaters. Erst viel später ist mir klar geworden, was diese Rolle für mich, für mein eigenes Leben bedeutet. All die Jahre habe ich sie nie ganz ablegen können, vielleicht auch nicht ablegen wollen. Gewiss, ich habe meinen eigenen Weg gesucht, mir mein Leben aufgebaut, eine Karriere, eine eigene Familie. Ich bin unabhängig geworden, selbstständig, erfolgreich, wie ich es immer sein wollte. Doch die Bindung an das Familienthema war schwer zu lösen, manchmal erwische ich mich noch heute dabei, dass ich geradezu reflexhaft reagiere auf das Thema oder den "Fall" Filbinger. Es war nicht das erste Mal, als ich im Gasthaus Kybfelsen saß, dass ich daran dachte, ein Buch zu schreiben. Und heute kann ich sagen, dass das Schreiben mir die eigentliche Aufgabe, man könnte auch sagen meinen Auftrag, der hinter dieser Rolle steckte, erst wirklich bewusst gemacht hat. Schritt für Schritt. Es ist dies die Rolle einer "Aussprecherin": Eine, die den Dingen ins Auge schaut, sie anspricht, ausspricht, und die Aussprache auch ganz bewusst sucht. Es mag sich pathetisch anhören, aber heute glaube ich, dass das der erste Schritt zur Heilung ist, meine Erdung. Damals, freilich, war ich aufgewühlt, Brot und Wurstsalat blieben fast unangetastet und auch vom Wein trank ich nur ein paar Schlucke, was die mitleidvollen Blicke der Wirtin erregte: "Sollen wir es Ihnen einpacken?" Ich zögerte einen Moment und nickte dann. Und dann fuhr ich heim zu meiner eigenen Familie, auf dem Rücksitz drei grüne Kisten, das war der Anfang.
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Filbinger-Riggert, Susanna

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1 Der Frühling ist mal wieder keiner gewesen und der Sommer droht keiner zu werden. Ein verregneter Mai und jetzt Anfang Juni die Schafskälte. In den Morgenstunden hat Nebel über den durchnässten Wiesen gestanden, der sich nur langsam auflöst. Auf den Feldern liegt das Korn gedrückt, die Wege sind matschig. Die Lupinen blühen, Kamille, Margeriten - groß ist sie ja nicht mehr, die Artenvielfalt am Wegesrand -, Gänseblümchen und natürlich Löwenzahn, "Unkraut vergeht nicht". Es hat Beschwerden gegeben aus der Nachbarschaft über den Zustand des Gartens. Die Hecken müssten geschnitten werden, ganz zu schweigen von den Rosen, es müsste gemäht werden. Mähen allerdings würde schon nicht mehr gehen, da müsste schon jemand mit der Sense kommen. Sicheln, wie es so schön heißt. Ich parke unmittelbar vor dem Haus auf dem schmalen Bürgersteig, anders geht es nicht in der engen Straße, ziehe noch im Auto den Gürtel meines Trenchcoats fester zu, in der Tasche spüre ich den Schlüsselbund, die ganze Fahrt über habe ich ihn gespürt. Warum eigentlich ich? Warum muss ich das machen und warum bin ich allein? Die Handtasche vom Beifahrersitz schnappen, die Autotür zuschlagen, das Tor aufsperren, an der Garage vorbei, die Treppe zum Haus hinaufgehen. Die Haustür aufsperren. Es ist ein Jahr nach seinem Tod. Mutter ist ihm vor wenigen Wochen gefolgt. Es riecht muffig in der Diele, klamm. Man müsste lüften, alle Fenster aufreißen, alle Türen, es müsste geheizt werden, das Haus ist aus dem Jahr 1950, keine gute Bausubstanz. Man müsste putzen, "grundreinigen", man müsste aufräumen. Am besten wäre es, das Haus leer zu räumen. Man müsste Entscheidungen fällen, es vermieten oder verkaufen. Ich stehe im Flur und schaue die Wände hoch. Schimmel würde sich als Erstes oben in den Ecken bilden. Ich habe in meinem bisherigen Leben schon sehr gut, aber auch lange extrem bescheiden gelebt. Wohin man in nicht gelüfteten Häusern als Erstes sehen muss, weiß ich genau. Und trotzdem ist es absurd, was ich tue. Vielleicht haben meine Geschwister ja recht. Sie sind für "Entsorgen", ich bin die Einzige, die dagegen ist. Es geht nicht um das Haus, es geht um sein Arbeitszimmer, die Bibliothek, jenen halbkreisförmigen, nachträglich in den Berghang geschlagenen Kultraum. Die Bibliothek wirkt wie die Apsis einer Barockkirche, ein Heiligtum in Bauweise und Einrichtung. Sein Heiligtum. Wohin mit Tausenden von Büchern, mit gewiss Hunderttausenden von Schriftstücken und Dokumenten, und alles ist Vergangenheit, vorbei, vorbei, vorbei. Hat Mutter deshalb die Tür nach seinem Tod verschlossen halten wollen? Alles hatte sie nun allein machen wollen, sie, die nie allein gewesen war. Wie eine Marotte war es uns erschienen, dass sie plötzlich den Zugang verweigerte, den Zugang zur Zentrale, zum Herzstück unseres Hauses. Von hier aus hat er regiert. Wie eine Art Einflugschneise wirkt der Weg durch die große Diele, in den Anbau, durchs Esszimmer, direkt auf seinen riesigen Schreibtisch zu. Und immer, wenn er da war, war die Tür offen. Dann sah man ihn schon vom Eingang aus hinter seiner Arbeit sitzen. Aber heute ist die Tür zu, und ich muss sie öffnen. Meine zögernde Hand auf der kalten Klinke - was weiß der Körper von den Dingen, die wir machen? Es ist dunkel im Raum, als Erstes gehe ich zu den Vorhängen und ziehe sie zur Seite, ich schalte die Lampen an, drehe die Heizkörper auf. Ein zartes Spinngewebe, fast unmerklich, streift meine Hand, ich ziehe sie erschrocken zurück. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen: die wandhohen Regale, erdrückend, wie ich schon immer fand, sein großer Schreibtisch, ein Stehpult, eine Sitzecke, zwei Armsessel vor dem Fernseher und viel Raum zum Auf-und-ab-Gehen. Wie oft ist er hier auf und ab gegangen, hin und her. Und wie oft habe ich dabeigesessen und ihm zugehört. Auf dem Couchtisch liegt ein Stapel Kondolenzbriefe, alles ist überzogen von einer feinen Staubschicht. Keine Frage, hier war seit Monaten kein Mensch mehr. Mir fällt eine Anekdote von Picasso ein. Der Maler hatte sich ungeheuer aufgeregt, als eine seiner Frauen in seinem Atelier ungefragt Staub gewischt hatte. Er brauche den Staub, nur so könne er sehen, was bewegt worden war. Wie still es hier ist. Bücher, die nicht gelesen werden, schweigen ungeheuer laut. Erstausgaben, jede Menge Erstausgaben, Goethe, Schiller, dessen Porträt lehnt gegen die Theaterstücke von 1806. Europäische und deutsche Literatur, alphabetisch geordnet, ein ganzes Regal allein für französische Belletristik, dann Geschichte, Verfassungsgeschichte, Politik, deutsche Politik. Eine Marmorbüste von Konrad Adenauer steht in einer Lücke. Jetzt poltert es in den Heizkörpern. Lange werde ich nicht bleiben, beschließe ich, gehe zu den großen Glasschiebetüren und öffne sie. Wie viel heller es mir jetzt draußen vorkommt, obwohl der Himmel noch immer bedeckt ist. Fern der Schwarzwald, vor mir am Hang unser desolater Garten. Ich bin hier groß geworden. Hier im Garten habe ich das Laufen gelernt, sprechen gelernt, denken, fühlen. Wirklich? Hab ich hier fühlen gelernt? Oder war das woanders? Auf dem Rückweg gleich werde ich ein badisches Vesper essen, unten im Dorf, im Gasthaus "Kybfelsen". Ich werde Wein trinken. Wein trinken, das liebte er. Und reden, diskutieren, mit mir, ohne Ende. Diese Freude, wenn ich kam, später, als ich erwachsen war. "Je, Susala, da bist du ja! Komm rein, leg ab! Wie war die Fahrt? Was wollen wir trinken?" Und schon verschwand er im Weinkeller und immer kam er mit einem ganzen Sortiment zur Auswahl zurück, Spätburgunder, Riesling oder Silvaner, meistens Gewächse aus der Gegend, vom Kaiserstuhl oder aus dem Markgräflerland. Manche Flaschen hielt er wie Babys in den Händen, wägte ihre Qualität ab, indem er sie liebevoll begutachtend hin und her drehte. "Setz dich!", sagte er. "Mach es dir bequem." Und dann redeten wir, meist bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann tauchte Mutter im Bademantel auf, setzte sich kurz dazu, trank ein Glas mit und ermahnte uns, nicht zu lange zu machen: "Vater muss ins Bett, er braucht Ruhe!" Aber Vater wollte reden: über Politik, über das Neueste in der Familie und dann wieder über Politik, den Zustand der Parteien, über die Weltlage, über die Finanzmärkte, über Amerika, Europa, und natürlich über das Wichtigste: das Filbinger-Barometer. Wie stand es? Tief? Mittel? Hoch? Meines stand immer unter Druck, zu viel Druck. Hat er das jemals gemerkt? Noch heute zucke ich bei der Nennung meines Namens regelmäßig zusammen. "Warum nehmen Sie denn dann nicht den Namen Ihres Mannes an?", empfehlen die Gutmeinenden. Wenn das so einfach wäre …Am Horizont ist jetzt ein schmaler blauer Lichtstreif auszumachen, ich stehe wie festgewurzelt auf den roten Backsteinfliesen. Mein letztes längeres Gespräch mit ihm fand hier statt. Wenige Wochen vor seinem Tod. Es war ein ungewöhnlich warmer Märztag gewesen, und er war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine schwere Bronchitis hatte ihm den Atem genommen. An jenem Tag durfte er sogar ein paar Minuten draußen sein, an der frischen Luft. Ich hatte ihm seinen Lodenmantel übergezogen, in dem er fast versank. Er hatte stark abgenommen, er war sehr schwach. "Sein Körper ist wie durch schwere Traglasten zu einem Haken gekrümmt", hatte ein Journalist kurz zuvor über ihn geschrieben. Ich fand es pietätlos. Ich hatte Himbeerkuchen mitgebracht, ich weiß es noch genau, denn es war ja noch keine Zeit für Himbeeren, also waren sie etwas Besonderes. Bei uns wurde stets darauf geachtet, sich nichts Besonderes zu kaufen, nicht zu schlemmen. Gut zu essen, ja, aber nichts, was den Anschein von Verschwendung hatte. Doch den Kuchen hatte er gegessen, ein, zwei Gabeln wenigstens. Und dann machte er ein paar Schritte mit mir, hier auf dieser Terrasse. Ich trug das mobile Sauerstoffgerät, und er fing ganz leise zu erzählen an. Es ging um seine Orden. Sie seien im Eichenschrank aufbewahrt, das müsse ich wissen. Wenn es so weit sei, sagte er. Das Thema schien ihm plötzlich äußerst wichtig. Der Orden der Légion d'honneur, der sei ihm der liebste, die höchste Auszeichnung der Grande Nation, auf den sei er besonders stolz. Er habe ihn für seine Arbeit als Kulturbeauftragter der Bundesregierung verliehen bekommen, für den Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Vierhundert Jahre fortwährender Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland, vierhundert Jahre Spannungen und Kriege seien beigelegt worden, dozierte er im Flüsterton, während ich ihn stützte und mahnte, wieder reinzugehen in sein Arbeitszimmer. Aber Vater war mittendrin, es seien Schulen und Städtepartnerschaften gegründet worden und Austauschprogramme für Lehrlinge, für Studenten, fuhr er fort, "aber weißt du was?" Ich wusste, was jetzt kam. Eine Anekdote, fast alle seine Erzählungen endeten mit einer Anekdote, so auch damals. Es war unser letztes wirkliches Gespräch und mein Vater erzählte, wie er im Élysée-Palast zur jährlichen Bilanz dieser Arbeit neben Willy Brandt gesessen habe und wie dieser, nachdem Mitterrand sein Resümee aus französischer Sicht gezogen hatte, anstatt auf Mitterrands Wunsch zu antworten, die Antwort einfach an ihn abgegeben habe. "Das übernimmt Dr. Filbinger", habe Willy Brandt gesagt, und zwar ohne jegliche vorherige Absprache. "Bloßstellen wollte der mich, in Verlegenheit bringen! Aber das gelang ihm nicht." Wir blieben stehen und Vater strahlte mich aus seiner gebeugten Körperhaltung heraus an. "Ich habe auf Französisch geantwortet, einen dreißigminütigen Vortrag! Danach hat Brandt beschlossen: Der Filbinger muss weg. Der kriegt die Verlängerung nicht. Koschnik wurde mein Nachfolger. Aber der konnte außer oui und non kein einziges Wort französisch sprechen." Ich musste trotz seines Anblicks schmunzeln, wie kindisch können Politiker sein. Und dann verging mir das Schmunzeln: Wie konnten ihn solche Nichtigkeiten derart beschäftigen? Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Orden seien im Eichenschrank aufbewahrt, prägte er mir ein. Dann gelang es mir, ihn zurück in sein Arbeitszimmer zu schieben. Von wegen Eichenschrank. Kurz nach seinem Tod erhielt ich einen Anruf von der Protokollabteilung des Staatsministeriums: "Wir benötigen die höchsten Orden Ihres Vaters für die Aufbahrung während des Staatsaktes im Freiburger Münster!" Wie vorausahnend er mich doch präpariert hatte, dachte ich, doch als ich den Schrank öffnete, war kein einziger dieser Orden da. Ich räumte den gesamten Schrank aus, Urkunden, Ehrendoktorwürden, Ehrenbürgerschaften und - jawohl, da waren auch Orden. Aber es waren Fastnachtsorden. Als wir beschlossen, die richtigen Orden nachmachen zu lassen, tauchten die Originale schließlich auf: in einer Schublade seines Kleiderschrankes zwischen Manschettenknöpfen und schwarzen Wollsocken. Das bereits in Auftrag gegebene Ersatzbundesverdienstkreuz traf tags darauf ein. Mir ist kalt. Ich gehe zurück, schließe die Türen hinter mir wieder, ich habe keine Ahnung, wen ich für das Herrichten des Gartens fragen soll. Ich gehe ein wenig auf und ab, dann lasse ich mich an seinem Schreibtisch in den großen schwarzen Sessel sinken, blättere in einem alten Pressespiegel - das gelbe Band des Pressespiegels, das aus jedem Stapel hervorsticht, auch mich hat es ein Leben lang begleitet, in den Tagen, in den Nächten, ich habe es tatsächlich schon oft im Traum vor mir gesehen und es waren keine guten Träume. "CDU trauert um Filbinger, Wirbel um Oettinger-Rede …" Ein verstaubtes Diktafon steht da, ein Foto meiner Mutter und ein abgemeldetes Telefon. Leere, wo sich sonst die Manuskripte und Akten stapelten, wo Termine gemacht, Reden geschrieben und Bücher gewälzt wurden. Wenn mich jemand fragen würde, warum ich hier bin, wüsste ich keine Antwort. Ich musste plötzlich zu diesem Haus fahren, zu unserem Haus. Ohne dass ich etwas Konkretes vorhatte, etwas suchen oder finden wollte. Ich öffne die rechte Schublade seines Schreibtisches, ziehe das weiße Plastikringbuch heraus, das er immer bei sich hatte, wenn er unterwegs war. Es müssen seine letzten Einträge gewesen sein. Mit zittriger Schrift auf weißem, unliniertem Papier sind Zahlenkolonnen notiert, die seine Blutwerte, seinen Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit festhalten. Er hatte den Verfall seines Körpers richtiggehend in Zahlen festgehalten. Ich halte das Büchlein in der Hand und lasse es in meinen Schoß sinken. Er war alt geworden und ich weiß, dass er in Frieden gestorben ist. Wir waren ja alle dabei, haben um sein Bett gesessen. Der Pfarrer war noch einmal gekommen, seine Kinder waren da, im Garten spielten die Enkel. Es war Palmsonntag gewesen und er hatte einfach nur die Augen zugemacht und aufgehört zu atmen. Wieder schweift mein Blick über die hohen Regalwände. Ich bleibe an den Karteikästen hängen, grüne, nicht von der üblichen Sorte, sondern größere, für die Aufbewahrung von Manuskripten und Recherchematerial geeignet. Zeitungsartikel sind darin gesammelt, Dokumente aus der Regierungstätigkeit, es gibt eine Personenkartei von Raymond Aron bis Carl Zuckmayer. Die Lieblingsthemen - die deutsche Frage, die europäische Neuordnung, DDR, Ostpolitik, Sozialismus - umfassen mehrere Kästen. Meine Geschwister haben recht, was soll man damit noch machen? Entsorgen. Ein schönes Wort: Weg mit den Sorgen. Wird ja auch langsam Zeit. Und während ich das noch denke, stehe ich auf, trete an das Regal und ziehe einen der Kästen heraus. Er ist unbeschriftet, ich öffne ihn - und finde, womit ich nie im Leben gerechnet hatte. Einige Stunden später saß ich im Gasthaus Kybfelsen vor einem deftigen badischen Vesper und einem Schoppen Wein. "Dass Sie einmal wieder reinschauen!", hatte die Wirtin mich begrüßt, ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen dafür. Nach dem ersten grünen Kasten hatte ich noch zwei weitere herausgezogen und dann hatte ich sogleich versucht zu zählen. Es mussten um die 60 Tagebücher sein. Mein Vater hatte fast jeden Tag Tagebuch geführt und es waren nicht nur die letzten Jahre, die ich hier fand, sie gingen vielmehr bis in den Krieg zurück. Nein, ich zog nicht das Schicksalsjahr, 1978, als Erstes raus und auch nicht die Kriegstagebücher. Ich suchte das Jahr 1951. Eitelkeit? Mir schlug das Herz bis in die Ohren und es wurde mir so heiß wie lange nicht mehr. Was wollte ich denn wissen? Dass er es aufgeschrieben hatte? Aufgeschrieben, dass es mich gab? Ich fand die Stelle auf Anhieb, hatte aber Schwierigkeiten, seine Schrift zu entziffern. Dann erkannte ich die Worte vor mir. Da hatte er es festgehalten, wie die Hebamme ihm das kleine Bündel Mensch entgegengestreckt und die Augen seines ersten Kindes, seiner Tochter, ihn zum ersten Mal angeblickt hatten. Ein Augenblick des Glücks! Ein Bündel Mensch.... Und plötzlich konnte ich weinen, alle nicht geweinten Tränen, sie brachen aus mir heraus, in meinem leeren, toten Elternhaus. Es dauerte lange, bis ich mich wieder fassen konnte. Ich hatte auf dem Teppich gehockt und auf dem Dielenparkett sah ich jetzt die Spuren im Staub, die ich gemacht hatte. Deshalb war ich also gekommen. So erleichternd das Weinen gewesen war, so schwer war es mir jetzt um das Herz. "Entsorgen" ging nicht. Ich habe schon früh innerhalb meiner Familie eine bestimmte Rolle übernommen. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, sie ist mir zugefallen, vielleicht auch zugedacht worden? Jedenfalls geschah es eher intuitiv. Ich fühlte eine Art Verantwortung, die ich für unsere Familie zu tragen hatte, als Älteste von uns Geschwistern und dann auch als enge Vertraute meines Vaters. Erst viel später ist mir klar geworden, was diese Rolle für mich, für mein eigenes Leben bedeutet. All die Jahre habe ich sie nie ganz ablegen können, vielleicht auch nicht ablegen wollen. Gewiss, ich habe meinen eigenen Weg gesucht, mir mein Leben aufgebaut, eine Karriere, eine eigene Familie. Ich bin unabhängig geworden, selbstständig, erfolgreich, wie ich es immer sein wollte. Doch die Bindung an das Familienthema war schwer zu lösen, manchmal erwische ich mich noch heute dabei, dass ich geradezu reflexhaft reagiere auf das Thema oder den "Fall" Filbinger. Es war nicht das erste Mal, als ich im Gasthaus Kybfelsen saß, dass ich daran dachte, ein Buch zu schreiben. Und heute kann ich sagen, dass das Schreiben mir die eigentliche Aufgabe, man könnte auch sagen meinen Auftrag, der hinter dieser Rolle steckte, erst wirklich bewusst gemacht hat. Schritt für Schritt. Es ist dies die Rolle einer "Aussprecherin": Eine, die den Dingen ins Auge schaut, sie anspricht, ausspricht, und die Aussprache auch ganz bewusst sucht. Es mag sich pathetisch anhören, aber heute glaube ich, dass das der erste Schritt zur Heilung ist, meine Erdung. Damals, freilich, war ich aufgewühlt, Brot und Wurstsalat blieben fast unangetastet und auch vom Wein trank ich nur ein paar Schlucke, was die mitleidvollen Blicke der Wirtin erregte: "Sollen wir es Ihnen einpacken?" Ich zögerte einen Moment und nickte dann. Und dann fuhr ich heim zu meiner eigenen Familie, auf dem Rücksitz drei grüne Kisten, das war der Anfang.
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Susanna Filbinger wächst mit der politischen Karriere ihres Vaters auf, wird zu seiner engen Vertrauten. Auch seinen jähen Fall erlebt sie aus nächster Nähe: Konfrontiert mit den Vorwürfen über seine Marinerichter-Tätigkeit in der NS-Zeit sieht er sich zum Rücktritt gezwungen. Was für den Politiker das Ende bedeutet, wird für seine Tochter zum Anfang. Susanna Filbinger geht mit Erfolg ihren eigenen Weg - die Vergangenheit abschütteln kann sie nicht. Als ihr Vater stirbt, gibt die Entdeckung seiner Tagebücher den Impuls zur Aufarbeitung des Geschehenen: Susanna Filbinger macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Eine bewegende Lebensgeschichte im Spannungsfeld zwischen Schuld und Verantwortung. PDF, 02.05.2013.
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1 |Der Frühling ist mal wieder keiner gewesen und der Sommer droht keiner zu werden. Ein verregneter Mai und jetzt Anfang Juni die Schafskälte. In den Morgenstunden hat Nebel über den durchnässten Wiesen gestanden, der sich nur langsam auflöst. Auf den Feldern liegt das Korn gedrückt, die Wege sind matschig. Die Lupinen blühen, Kamille, Margeriten - groß ist sie ja nicht mehr, die Artenvielfalt am Wegesrand -, Gänseblümchen und natürlich Löwenzahn, "Unkraut vergeht nicht". Es hat Bes, Susanna Filbinger wächst mit der politischen Karriere ihres Vaters auf, wird zu seiner engen Vertrauten. Auch seinen jähen Fall erlebt sie aus nächster Nähe: Konfrontiert mit den Vorwürfen über seine Marinerichter-Tätigkeit in der NS-Zeit sieht er sich zum Rücktritt gezwungen. Was für den Politiker das Ende bedeutet, wird für seine Tochter zum Anfang. Susanna Filbinger geht mit Erfolg ihren eigenen Weg die Vergangenheit abschütteln kann sie nicht. Als ihr Vater stirbt, gibt die Entdeckung seiner Tagebücher den Impuls zur Aufarbeitung des Geschehenen: Susanna Filbinger macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Eine bewegende Lebensgeschichte im Spannungsfeld zwischen Schuld und Verantwortung.
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Kein weißes Blatt: Susanna Filbinger wächst mit der politischen Karriere ihres Vaters auf, wird zu seiner engen Vertrauten. Auch seinen jähen Fall erlebt sie aus nächster Nähe: Konfrontiert mit den Vorwürfen über seine Marinerichter-Tätigkeit in der NS-Zeit sieht er sich zum Rücktritt gezwungen. Was für den Politiker das Ende bedeutet, wird für seine Tochter zum Anfang. Susanna Filbinger geht mit Erfolg ihren eigenen Weg - die Vergangenheit abschütteln kann sie nicht. Als ihr Vater stirbt, gibt die Entdeckung seiner Tagebücher den Impuls zur Aufarbeitung des Geschehenen: Susanna Filbinger macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Eine bewegende Lebensgeschichte im Spannungsfeld zwischen Schuld und Verantwortung. Ebook.
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